„Wie sicher ist es bei Gewit­ter im Wald?“ Die­se Fra­ge ist ver­wandt mit jener, wie sicher es denn sei, bei Gewit­ter Golf zu spie­len, oder in einem See zu schwim­men. Um es vor­weg zu neh­men: Man soll­te es bes­ser las­sen – und das soll­te einem ein gesun­des Unter­be­wusst­sein eigent­lich mit­tei­len. Ist dem nicht so, emp­fiehlt es sich, ein wenig Medi­ta­ti­on und gele­gent­li­ches In-sich-Hin­ein­hor­chen zu prak­ti­zie­ren. Was aber, wenn man unvor­her­ge­se­hen in ein Gewit­ter gerät? Oder gern wüss­te, wie es wäre? Für letz­te­res eröff­net sich im fol­gen­den Bericht eine Alter­na­ti­ve, die sich bequem vom siche­ren Schreib­tisch­stuhl oder wei­chen Sofa aus durch­le­ben lässt. Doch zunächst ein wenig Hin­ter­grund.

Wür­de sich der Blitz nicht lie­ber einen Baum aus­su­chen?

Man könn­te anneh­men, bei Gewit­ter sei man im Wald siche­rer als etwa auf einem frei­en Feld oder auf einer Rasen­flä­che mit einem gut lei­ten­den Metall­stab in der Hand, da der Blitz ja stets in den hohen Baum ein­zu­schla­gen pfle­ge, und man im Wald ja von so vie­len Bäu­men umge­ben sei, dass er genü­gend Aus­wahl zur Ver­fü­gung hät­te, und da er ja kein per­sön­li­ches Inter­es­se an einem haben soll­te, müss­te der Blitz mit hoher Wahr­schein­lich­keit irgend­wo ein­schla­gen, nur nicht bei einem selbst.

Die Sache mit der Wahr­schein­lich­keit

Der Grund­ge­dan­ke mag rich­tig sein, lei­der wird dabei ein ent­schei­den­der Aspekt über­se­hen: Die Sache mit der Wahr­schein­lich­keit. Zwar ist man tat­säch­lich siche­rer, wenn alles um einen her­um ein gutes Stück höher ist als man selbst und dazu ein guter Abstand zu die­sen Objek­ten gege­ben ist (Obacht: Schritt­span­nung). Aller­dings wird der Blitz unwei­ger­lich irgend­wo ein­schla­gen. Man spielt sozu­sa­gen unfrei­wil­lig eine Art rus­si­sches Rou­lette – mit dem fei­nen Unter­schied, dass nicht man sel­ber, son­dern die Natur den Revol­ver in der Hand hält.

Der Kra­ter

Einst auf der Suche nach neu­en Wald­mo­ti­ven in der Nähe des Hün­stol­len­turms im Göt­tin­ger Wald unter­wegs, fand sich eine klei­ne Flä­che, in der die Kraut­schicht wie aus­ge­jä­tet schien, mit einer merk­wür­dig beschaf­fe­nen Baum­wur­zel in der Mit­te. Es war eine beson­ders dicke Wur­zel. Sie war in einem Bereich von über einer Hand­flä­che kohl­schwarz ver­färbt, und kra­ter­ar­tig aus­ge­kerbt. Um die Ver­tie­fung her­um, am Holz wie auch auf dem Wald­bo­den, waren klei­ne Gebil­de zu erken­nen, sol­che, die man von che­mi­schen, exo­ther­men Reak­tio­nen kennt – schlacke­ar­ti­ge, auf­ge­quol­le­ne Asche- und Mine­ral­struk­tu­ren. So sieht es wohl aus, wenn eine gewal­ti­ge, elek­tri­sche Ent­la­dung den Wald­bo­den trifft. Hier war ein Blitz offen­sicht­lich nicht in einen der über drei­ßig Meter hohen, umste­hen­den Bäu­me ein­ge­schla­gen, son­dern bis hin­ab zum Boden gelangt.

Ein Baum explo­diert

Wenn ein Blitz in einen Baum ein­schlägt, sorgt die elek­tri­sche Ent­la­dung für eine der­art schnel­le Erhit­zung und damit Ver­damp­fung des Was­sers im Holz, dass der Druck zur Spal­tung oder direkt Explo­si­on des Bau­mes führt. Immer­hin flie­ßen hier über Hun­dert­tau­send Ampere, und es lie­gen Span­nun­gen von meh­re­ren Zehn­mil­lio­nen Volt an. Aller­dings gibt es unter Blit­zen Abstu­fun­gen in ihrer Inten­si­tät – so gibt es auch Blit­ze, bei denen nur weni­ge Hun­dert Ampere flie­ßen, und sol­che trans­por­tie­ren ledig­lich so viel Ener­gie, dass sie bei einem Ramm­stein-Kon­zert kurz die Lam­pen auf­flackern las­sen könn­ten. Ist zudem die Ober­flä­che, etwa durch Regen, auch noch klatsch­nass, kann es pas­sie­ren, dass ein wesent­li­cher Teil der Blit­z­ener­gie ober­fläch­lich abge­lei­tet wird. Im Fal­le der Baum­wur­zel sehen wir auch eine Ein­bet­tung in dich­tes Erd­reich, das die­sen Effekt ver­stärkt.

Vom Gewit­ter über­rascht

Wenn man jedoch zu doof ist, den Wet­ter­be­richt zu lesen und sei­ne Tour ent­spre­chend zu pla­nen (was dem Ver­fas­ser die­ser Zei­len pas­siert war) und in die unglück­li­che Situa­ti­on gerät, unge­schützt von einem Gewit­ter in der frei­en Natur über­rollt zu wer­den, muss natür­lich das Beste draus gemacht wer­den. So gesche­hen im Göt­tin­ger Wald, am Rand des Ker­st­lin­ge­röder Fel­des. Die hal­be Stun­de zusam­men­ge­kau­ert in der Hocke zu ver­brin­gen, war äußerst unbe­quem. Tröst­lich war der Gedan­ke, dass sich durch das Regen­was­ser eine gewis­se lei­ten­de Hül­le um den Kör­per gebil­det hat­te, was nun ja dazu führt, dass einen der Blitz bei einem Voll­tref­fer mit höhe­rer Wahr­schein­lich­keit nicht direkt inner­lich ver­dampft. Aber wenn schon in so einer Situa­ti­on, galt es natür­lich, sie best­mög­lich zu nut­zen. Ich hat­te eines die­ser win­zi­gen Mini­sta­ti­ve dabei, und die Kame­ra folg­lich per­ma­nent in einem guten Win­kel auf Lang­zeit­be­lich­tung gestellt.

Das beste Sound­sy­stem der Welt

Ramm­stein im Ulle­vi Göte­borg 2022

Die aku­sti­sche Inten­si­tät eines Gewit­ters ist ein­zig­ar­tig. Die kni­stern­de Elek­tri­zi­tät, die mit kri­stall­kla­rer, unwirk­li­cher Schär­fe die Luft durch­schnei­det, dazu das tie­fe, nie­der­fre­quen­te Rol­len und Wider­hal­len des Don­ners in der Fer­ne, und der har­te, knal­len­de Schlag, wenn ein Blitz von Wol­ke zu Wol­ke springt und die Schall­wel­le für den Bruch­teil einer Sekun­de regel­recht hap­tisch und greif­bar in der Luft zu ste­hen scheint – Ramm­stein­kon­zer­te und High-End-Audio­ket­ten kön­nen einige die­ser Aspek­te annä­he­rungs­wei­se ver­mit­teln, aber an das Ori­gi­nal reicht so schnell nichts her­an.

Der gespal­te­ne Him­mel

Dann – ein laut­lo­ses, gezack­tes Licht­ge­flecht, das den Him­mel auf­spal­te­te und mit glei­ßen­der elek­tri­scher Ent­la­dung zer­riss, gefolgt von einem split­tern­den, vibrie­ren­den Kra­chen. Der Blitz schlug genau hin­ter dem weit­läu­fi­gen Are­al der Frei­flä­che in den Wald ein. Jeder fili­gra­ne Ast der aus­la­den­den, strah­lend wei­ßen Ver­zwei­gung leg­te sich auf dem Bild­sen­sor nie­der, und ver­mut­lich ist es einer der größ­ten Glücks­tref­fer, den ich bis dato mit mei­ner Kame­ra fest­ge­hal­ten hat­te. Die Kom­po­si­ti­on ist unglaub­lich.

(den Wet­ter­be­richt ver­fol­ge ich seit­dem etwas gründ­li­cher)

Der gespal­te­ne Him­mel — Blitz über dem Göt­tin­ger Wald